Erziehungsnotstand: Schule als Sozialstation - Schule - FOCUS-SCHULE - FOCUS Online
22.08.07, 11:42

Erziehungsnotstand

Schule als Sozialstation

Immer wieder fallen Schüler mitten im Unterricht vom Stuhl. Wegen Unterzuckerung – sprich: aus Hunger. Weil viele Eltern mit einfachen Erziehungsaufgaben überfordert sind, müssen Pädagogen einspringen.
Von FOCUS-SCHULE-Autor Volker Gustedt
Weil es zu Hause nichts gibt, sorgt die Schule fürs Essen
Erst sieben Uhr morgens. Doch in der heimeligen Wohnküche der Wörthschule in München ist bereits was los. 20 Kinder drängen sich um den Tisch, es riecht nach frischen Brezen, vor ihnen stehen Obst und Aufstriche. Seit April bietet die Schule ein kostenloses Schulfrühstück an. Die Zutaten liefert die Münchner Tafel, ein karitativer Verein, der überschüssige Lebensmittel etwa aus Supermärkten kostenlos an Bedürftige verteilt.

Jedes zweite Kind kommt ohne Frühstück

Vielen Eltern, weiß Sozialarbeiterin Martina von Dewitz, fehlt das Geld oder die Zeit, um mit ihren Kindern zu frühstücken. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kommt fast jedes zweite Kind aus einkommensschwachem Elternhaus mit leerem Magen zur Schule. Auch an der Münchner Wörthschule, in der neun von zehn Kindern aus Einwandererfamilien stammen, kippten schon mehrfach Schüler mitten im Unterricht vom Stuhl. Wegen Unterzuckerung oder einfacher gesagt: aus Hunger.

Selbst unter den Wohlhabenden geht es jedem vierten Schüler ähnlich. „Etwa 20 Prozent der Eltern interessieren sich nicht sonderlich für so elementare Dinge wie Ernährung, Hausaufgaben und vor allem das Sozialverhalten“, bestätigt Heidi Müller-Höreth, stellvertretende Schulleiterin am Dreieich-Gymnasium im hessischen Landkreis Offenbach: „Und leider sind es oft gut situierte Mittelstandsfamilien.“
Schulen als „Ersatzfamilien“?

Lehrer sind zunehmend mit Problemen konfrontiert, deren Lösung eigentlich nicht ihre Aufgabe ist: übermüdete Kinder, die bis in die Nacht vor dem Computer saßen, Respektlosigkeiten, Aggressionen, Schuleschwänzen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir als Schule nur noch den gesellschaftlichen Veränderungen hinterherhecheln“, seufzt Heidi Müller-Höreth, stellvertretende Schulleitern am Dreieich-Gymnasium im hessischen Landkreis Offenbach.

Weil Lamentieren und Warten auf mehr Geld und Personal nicht helfen, ergreifen Schulen selbst die Initiative. Um Geld aufzutreiben, müssen sie oft genug bei Behörden oder Sponsoren betteln gehen.
Not macht erfinderisch

Mit kreativen Ideen versuchen Pädagogen dem Erziehungsnotstand zu begegnen. Von der Lufthansa-Mahlzeit bis zum Knigge-Seminar im 4-Sterne-Hotel ist alles dabei. Mehr dazu in der neuen Ausgabe von FOCUS-SCHULE.
Sanktionen für Eltern gefordert

So lobenswert viele Einzelinitiativen sind, sie bleiben Stückwerk. „Jugendhilfe und Schule arbeiten nur punktuell Hand in Hand. Von einem umfassenden Konzept von Erziehung und Bildung sind wir in Deutschland weit entfernt“, kritisiert Norbert Hocke, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. In ihrem jüngsten Kinder- und Jugendbericht stellt die Bundesregierung zwar fest, dass sich durch die Umwandlung von Halb- in Ganztagsschulen die Betreuungssituation für Eltern und Kinder vielerorts verbessert habe. Aber weiterhin gebe es zu viele Mängel, die „einem verlässlichen und auf die Belange von Familien abgestimmten Betreuungsangebot“ entgegenstehen.

Lehrerpräsident Kraus warnt davor, Wunderdinge von den Ganztagsschulen zu erwarten: „Wenn die Prägung durch das Elternhaus nicht stimmt, können wir uns als Schule noch so viel Mühe geben. Da kommen wir nicht gegen an.“ Kraus fordert deshalb härtere Sanktionen bis hin zu Bußgeldern und Sozialleistungskürzungen für solche Eltern, die ihre Kinder nur unregelmäßig zur Schule schicken oder sie so verwahrlosen lassen, dass sie dem Unterricht kaum noch folgen können. „Das darf“, sagt Kraus, „den Eltern ruhig wehtun. Sonst hilft es nicht.“